Literaturnobelpreis 1984: Jaroslav Seifert

Literaturnobelpreis 1984: Jaroslav Seifert
Literaturnobelpreis 1984: Jaroslav Seifert
 
Der tschechische Lyriker erhielt den Nobelpreis für seine Dichtung, die mit frischer Sinnlichkeit und reicher Erfindungsgabe ein befreiendes Bild menschlicher Unbeugsamkeit und Vielfalt ergibt.
 
 
Jaroslav Seifert, * Prag 23. 9. 1901, ✝ Prag 10. 1. 1986; 1920-49 Journalist und Redakteur bei verschiedenen Tageszeitungen und Verlagen, Autor von mehr als 30 Gedichtbänden, Mitbegründer der avantgardistischen Künstlergruppe Devętsil, auch als Übersetzer tätig; wandte sich 1968 gegen die Invasion seines Landes und war Mitunterzeichner der »Charta 77«, in den 1970er-Jahren Publikationsverbot.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Im Jahr 1984 war es noch von großer politischer Brisanz, wenn der bedeutendste Literaturpreis des Westens in ein kommunistisches Land ging. Die Würdigung durch das Nobelpreiskomitee nannte denn auch die Erwartungen, die man im Westen an einen Dichter aus dem Ostblock stellte: Seifert zeichne ein »befreiendes Bild vom unbezähmbaren Geist und der Wandelbarkeit des Menschen« und beschwöre »eine andere Welt als die der Tyrannei und der Verwüstung«. Die politisch kontrollierte Öffentlichkeit der Tschechoslowakei zeigte sich denn auch irritiert: Die Ehrung war den Medien nicht mehr als eine kleine Meldung wert.
 
Seifert gehörte zu den Unterzeichnern der »Charta 77«, mit der die tschechoslowakischen Schriftsteller für eine Demokratisierung des Landes und die Respektierung der Menschenrechte eintraten. Als die Vergabe des Nobelpreises an Seifert bekannt wurde, war in Prager Buchhandlungen keines seiner Bücher mehr zu bekommen, und das obwohl in den zwölf Jahren zuvor 300 000 Bände seiner Gedichte gedruckt worden waren. Allerdings durften nach 1977 nur bereits veröffentlichte Gedichte wieder aufgelegt werden, für neue Arbeiten galt ein Publikationsverbot. Damals konnten Seiferts Gedichte nur in Untergrundverlagen oder im Ausland erscheinen. Erst mit einiger Verzögerung wich die Skepsis bei den politisch Verantwortlichen, und es machten sich auch in der offiziellen Tschechoslowakei Anerkennung für den Autor und patriotischer Stolz breit.
 
Auch im westlichen Ausland hinterließ das Votum des Nobelpreiskomitees einige Ratlosigkeit, denn Seifert war als Lyriker in einem wenig publikumswirksamen Genre tätig, und anders als etwa Aleksandr Solschenizyn (Nobelpreis 1970) ließ er sich auch kaum als antikommunistischer Dissident präsentieren. Denn abgesehen von seinen Anfängen war der 1984 bereits über 80-jährige kein vordergründig engagierter, politisch militanter Dichter. Obwohl der noch in der österreichisch-ungarischen Monarchie geborene Seifert die hauptsächlichen politischen Wendungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts mitgemacht hatte, kommen sie in seinen Gedichten nur indirekt, gleichsam als schwankender Hintergrund des Lebens, vor. Sie handeln vielmehr in einer unprätenziösen und direkten, zugleich aber auch vieldeutigen und hintersinnigen Sprache von den klassischen Themen der Poesie: der Liebe und dem Tod, der Schönheit der Frauen und den einfachen Dingen des Lebens.
 
 Avantgardistische Anfänge
 
Geboren in einem Prager Arbeitervorort verließ Seifert die Schule ohne Abschluss und begann als Journalist zu arbeiten, zunächst bei »Rudé Pravo«, der Zeitung der Kommunistischen Partei. In dieser Zeit debütierte er mit dem Gedichtband »Męsto v slzách« (tschechisch; »Stadt in Tränen«; 1921). 1920 war Seifert Mitbegründer der Avantgardegruppierung »Devętsil«, in der sich der Geist einer von Revolutionshoffnungen durchtränkten Nachkriegsgeneration verdichtete. Als Avantgarde lehnte man die »schöne Kunst« ab — bereits die jüngeren Vorgängerströmungen wie Futurismus oder Expressionismus galten als Produkte einer verbrauchten bürgerlichen Kultur — und suchte eine radikale Modernität, in der »das Wort als Wort und nicht als bloßer Repräsentant des benannten Objekts oder als Gefühlsausdruck empfunden wird«, wie es Roman Jakobson, Linguist und einer der Theoretiker der Gruppe, formulierte. Als eins der Hauptwerke gilt Seiferts Gedichtband »Na vlnách TSF« (tschechisch; »Auf den Wellen von TSF« = Télégrafie sans fil, drahtlose Telegrafie; 1925). Seifert selbst hat die Zeit des »Devętsil« als die wichtigste Periode seines Schaffens betrachtet. Seinen Rang als Klassiker der tschechischen Poesie erwarb er jedoch erst mit der Dichtung der nachfolgenden Jahrzehnte.
 
 Bruch mit der Avantgarde
 
1929 brach Seifert mit »Devętsil« ebenso wie mit dem Sozialismus stalinistischer Prägung. Die Form der Gedichte wird bestimmter und regelmäßiger, ihr Ton heiter und gelassen. Doch Seifert hatte sich nicht zum weltfremden Sänger gewandelt, er blieb den Dingen des Lebens verbunden. So wirkte er von 1932 bis zum deutschen Einmarsch in Prag im Herbst 1938 in der Prager »Morgenzeitung« als lyrischer Kommenator der Tagesereignisse. »Zpíváno do rotacky« (tschechisch; »In die Rotationspresse gesungen«) nannte er diese scharfsinnigen und bissigen Elaborate. Die während der deutschen Besatzung verfassten Bände (zum Beispiel »Svetlem odená«, tschechisch; »In Licht gekleidet«; 1940) preisen das kulturelle Erbe Tschechiens, die Schönheit seiner Landschaften und insbesondere die Prags und verstecken die Kritik an Nationalsozialismus, Krieg und Unterdrückung zwischen den Zeilen in kunstvollen allegorischen Gemälden. Nach dem Krieg setzte er diese Richtung fort. So nimmt »Maminka« (tschechisch; »Mama«; 1954) das im 19. Jahrhundert von Jan Neruda in die tschechische Literatur eingeführte Thema der innigen Liebe zur Mutter auf. Nach der Aufdeckung und Verurteilung der stalinistischen Verbrechen glaubte Seifert auf dem tschechoslowakischen Schriftstellerkongress von 1956 einen Angriff auf die Vereinnahmung der Literatur durch Partei und Regierung wagen zu können. »Wenn ein Autor schweigt, dann lügt er«, proklamierte er und verlangte eine Lockerung der Zensur. Doch die Zügel wurden im Gegenteil wieder angezogen, und Seiferts Produktivität ließ — auch aus gesundheitlichen Gründen — nach.
 
 Seifert als Identifikationsfigur
 
Mitte der 1960er-Jahre erscheinen neue Gedichtbände. Zugleich tritt er, jetzt in Einklang mit der politischen Führung, für liberale Reformen des Kommunismus und eine Lösung von der sowjetischen Bevormundung ein. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Pakts wurde er auf den Sessel des Vorsitzenden des Schriftstellerverbands gewählt.
 
Seifert wusste, welche politische Bedeutung seine diskrete Poesie für die tschechische Nation hatte. Sie spreche in einer sehr intimen Weise zu den Menschen, erklärte er in seiner Nobelpreisrede, und biete sich damit als »unser verschwiegenstes und sicherstes Refugium« an, sie leiste »Beistand in Widrigkeiten, die wir uns nicht einmal getrauen zu benennen«. In diesem Sinne bot das Werk des späten Seifert den Tschechen eine poetische Heimat, die allein ihnen gehörte. Unter diesen speziellen Wirkungsbedingungen ist es kein Wunder, dass die Resonanz im westlichen Ausland beschränkt war. Englische und deutsche Übersetzungen erschienen erst in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren. Seiferts Werke waren in seiner Heimat zu seinen Lebzeiten stets schnell vergriffen. Heute allerdings, da sich die Voraussetzungen seiner Rezeption geändert haben, läuft er Gefahr, als Lesebuchklassiker abgelegt zu werden.
 
J. Zwick

Universal-Lexikon. 2012.

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